Ein schweres Erbe
Vergangenheitsbewältigung bei den Anne Frank Friedenstagen
Auf den Anne Frank Friedenstagen denken die meisten Menschen an die Opfer des Nationalsozialismus. Martin denkt aber nicht nur an die Opfer, sondern auch an seinen Opa, der während des Krieges Mitglied der Waffen-SS war. Wie geht ein 15-Jähriger mit diesem Erbe um?
Von Lilly Werny
Etwa 30 Jugendliche schlendern vorbei an Massengräbern. „2500 Tote“ steht auf der steinernen Gedenktafel. Die Gruppe legt eine Schweigeminute für die Opfer des Nationalsozialismus ein. „Was sind das bloß für Menschen, die das alles unterstützt haben?“, fragt eine der Teilnehmerinnen. Verständnislos schüttelt sie den Kopf.
Jugendliche aus Deutschland, Polen, England und Tschechien besuchen das ehemalige Konzentrationslager Bergen-Belsen. Unter ihnen ist Martin, ein 15-jähriger Junge aus der Umgebung. Er hat ein freundliches Gesicht und ein sympathisches Lächeln. Im Gegensatz zu den meisten anderen Jugendlichen hat er eine sehr offene Art. Als einziger aus seiner Gruppe spricht er die anderen Schüler an, stellt sich ihnen vor und plaudert darauf los. Er unterhält sich mit ihnen über die Schule, Hobbys und Berufswünsche.
Nur wenige der Jugendlichen wissen, dass Martins Opa ein Nationalsozialist war. Einige seiner Freunde wissen Bescheid.
„Mein Opa war Mitglied der Waffen-SS“, sagt er. Sein freundliches Gesicht sieht dabei ernst aus.
Das Erbe des Großvaters
Der 15-Jährige erzählt, sein Großvater sei der Wehrmacht 1938 beigetreten und habe während des Krieges an der Front gekämpft. Dann wurde er gefangen genommen und kehrte erst etwa acht Jahre später nach Deutschland zurück. Vor einigen Jahren ist er gestorben. „Durch die Schrecken des Krieges hat er seinen Glauben an den Nationalsozialismus verloren“, sagt Martin. Er scheint seinen Opa rechtfertigen zu wollen. „Ich muss es nicht verstecken. Ich trage es nicht mit Stolz, aber ich stehe dazu. Ich kann es nicht ändern“.
Martin findet es wichtig, über die Kriegsverbrechen im zweiten Weltkrieg aufzuklären. Seiner Meinung nach sollte im Schulunterricht aber auch von den Nöten der deutschen Bevölkerung gesprochen werden. „Auch deutsche Soldaten haben gelitten“, sagt er.
Die Anne-Frank Friedenstage sind seiner Meinung nach eine gute Gelegenheit, Voreingenommenheiten gegenüber anderen Nationen abzubauen. „Ich finde es gut, dass die Veranstaltung so international ist. Es gibt so viele Vorurteile und die fallen hier ein bisschen“.
Martins Ehrlichkeit stößt nicht bei allen Leuten auf Verständnis. Er erinnert sich an ein Treffen der katholischen Kirche vor einiger Zeit mit anderen Jugendlichen. Dabei gab er zu, dass sein Opa im Krieg gekämpft hatte. „Die Jugendlichen wurden sauer“, erzählt er, „Sie waren richtig aggressiv mir gegenüber“. Der 15-Jährige kann das nicht verstehen. „Ich habe nichts damit zu tun“. Trotzdem erzählt er bei den Friedenstagen kaum jemandem etwas von seinem Großvater.
Tagebuch der Anne Frank
Es ist Freitag Vormittag, der letzte Tag der Anne Frank Friedenstage. Die Schüler ändern letzte Details an den Bildern, an denen sie seit Montag arbeiten. Die Gemälde zeigen Ausschnitte aus Anne Franks Leben. Martin blättert gedankenverloren im „Tagebuch der Anne Frank“ herum. Er sucht ein passendes Zitat, das auf das Bild soll. Irgendwas mit Familie.
Trotz der Geschichte seines Opas interessiert sich Martin für das Militär, nach der Schule will er zur Bundeswehr. Die Uniformen und die Flugzeuge faszinieren ihn. Als sein Vater das merkte, fuhr er mit Martin zur Gedenkstätte Bergen-Belsen und erzählte ihm von der Nazi-Vergangenheit seines Opas. „Mein Vater hat dann gemerkt, dass ich mich ein bisschen geschämt habe. Ich kann es nicht ändern und ich habe auch nichts damit zu tun, aber ich finde es schlimm, was in dem deutschen Namen passiert ist“, erklärt Martin. Plötzlich wirkt er etwas unsicher.
Mehr als Vergangenheitsbewältigung
„Komm, wir nehmen das hier“, meint Martin. Es ist ein Zitat, das Annes Gefühlswelt in Bezug auf ihre Familie beschreibt. Die restlichen Schüler der Gruppe haben nichts dagegen einzuwenden: total müde sitzen sie herum. Sie waren am Abend zuvor feiern. Auf den Anne Frank Friedenstagen ist eben auch Platz für Freundschaft, Spaß und gute Laune. Die Veranstaltung ist mehr als Vergangenheitsbewältigung.