Anne-Frank-Friedenstage
Europäische Schülerinnen und Schüler begegnen Anne Frank

Gibt es ein Bergen ohne Belsen?

Erinnerungskultur

Erst vor einem halben Jahrhundert wurden in dem Konzentrationslager Bergen-Belsen mehr als 70 000 Menschen umgebracht. Die Kleinstadt Bergen scheint heute in seiner Ruheseligkeit aber kaum noch mit dem Schreckensort von damals in Verbindung zu stehen. Luise ist hier zu Hause und doch war sie erst einmal in der Gedenkstätte. Ihre Heimat bedeutet viel mehr für sie.

Von Carlotta Duken

bergen
Jetzt hört man das Rauschen des Windes, der durch das Heidekraut auf den Massengräbern weht. Und das ungeduldige Drehen der Füße im Kies. Dann ist die Schweigeminute vor dem Obelisk beendet. Luise hat trotzdem noch kurz Gänsehaut. Ein versichernder Blick nach links und rechts, dass auch die anderen wieder miteinander reden, dann nimmt sie ihr Gespräch mit der polnischen Schülerin Natalia wieder auf. Beide müssen plötzlich lachen: mit Händen und Füßen versuchen sie eine einheitliche Bedeutung des Wortes “poppy” zu finden. Mohn oder Welpen zwischen Massengräbern.

Nur zehn Kilometer trennen Luises zuhause von dem ehemaligen Konzentrationslager. Und doch ist ihr erster Besuch erst ein Jahr her, da war sie schon 16 Jahre alt. “Zuhause war das nie ein wirkliches Thema”, bemerkt Luise. Heute geht sie zum zweiten Mal durch das massive Eisentor der Gedenkstätte, in Begleitung von anderen europäischen Teilnehmern der diesjährigen Anne Frank Friedenstage in Bergen. Als die Führung beginnt, steht sie in der ersten Reihe. Ihre Augen schweifen über die Schwarzweißaufnahmen, die unmittelbar nach der Befreiung des Lagers aufgenommen wurden. Ungläubige, perplexe, hoffnungsvolle Gesichter. Luise bleibt etwas länger stehen, als die anderen und muss sich dann beeilen, um zu der Gruppe aufzuschließen. Hinter Luise haben sich drei Schülerinnen niedergelassen, die ebenfalls aus Bergen stammen. Sie massieren sich gegenseitig. Die meisten Jugendlichen sind erschöpft und stürzen sich auf jede Sitzmöglichkeit während der Führung. “Langsam reicht es jetzt auch”, findet auch Caro und lehnt ihren Kopf gegen Luises Schulter. Luise ist auch müde, erhebt sich aber kurz darauf. Es geht weiter.

“Das hat mich echt geschockt, dass man das so sieht”

Dem Begriff der Judenverfolgung ist Luise zum ersten Mal in der Grundschule begegnet. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit den Themen “Drittes Reich” und “Holocaust” folgte aber erst in der neunten Klasse. Dreimal ist dieser Themenblock für den Geschichtsunterricht in Deutschland verpflichtend bis zum Abitur. Privat war sie nie mit dem Thema konfrontiert. Sie erinnert sich nur an eine Situation mit ihrer Familie, die sich in ihren Kopf eingebrannt hat: vor vielen Jahren wurde Luise während einer Familienradtour durch die Ortschaft auf eine Markierung auf der Strasse aufmerksam. Ein schwarzer Strich auf dem Boden. “Das hat mich echt geschockt, dass man das so sieht”, sagt die 17-Jährige. Was der Stricht bedeutet, weiß sie heute nicht mehr. Nur, dass es ein Überbleibsel der Judentransporte war, die früher an der Ortschaft Bergen entlanggeführt wurden.

Seit ihrem ersten Besuch hier hat sich nicht viel verändert. Nur das Wetter war schlechter, passender für diese Art von Besuch. Wolkenlos und sonnendurchflutet präsentiert sich die Gedenkstätte heute und wirkt wie eine freundliche Parkanlage im Sommer. Luise und Caro sind viel zu vertieft in ihr Gespräch mit Natalia, um auf die mit Gras und Weide überwucherten Massengräber in ihren Augenwinkeln zu achten. “Man kennt das ja schon”, bemerkt Caro kurz. “Diese Grausamkeiten kann man einfach nicht verstehen, egal wie lange man darüber nachdenkt”, ergänzt Luise dann doch auf Englisch, Natalia nickt zustimmend. Kurzes Schweigen. Luises wechselt das Thema und frag Natalia nach der Schule und ihren Zukunftsplänen. Beide Mädchen wollen ins Ausland gehen, viel erleben und ihren Horizont erweitern – und diese Pläne scheinen für den Moment mehr zu verbinden, als das gemeinsame kulturgeschichtliche Erbe.

Eine Zukunftsvision

Am nächsten Tag treffen sich alle Schüler im Stadthaus Bergen. Sie gestalten Collagen zu verschiedenen Themen des Tagebuchs der Anne Frank: “Anne Frank in Farbe gebracht” Luise tut sich sofort mit zwei Holländern zusammen, denn “bloß mit Deutschen, das wäre ja langweilig gewesen”. Sie wählen “Zukunft” als Thema –  ein Wort, das Luise lieber mag als  ”Vergangenheit”. Sie blickt nach vorne: ” Wir sollten uns nicht in der Vergangenheit vergraben, sondern wir sollten dafür sorgen, dass so etwas, wie das Dritte Reich, nie wieder passiert”, sagt sie, während sie mit einer Kohlkreide den Fensterrahmen ihrer Skizze nachzieht. Dann muss sich Luise wieder konzentrieren. Mit wachsamen Augen verfolgt sie die Hände ihres Gruppenkollegen Walther, die Paste mit einem Spachtel auf die Leinwand auftragen, um dem Bild Struktur zu verleihen. Luises Augen wandern zwischen der Skizze und der Collage und lächelt – die Umsetzung ist gelungen.

Während Luise die Zukunftsvisionen der Anne Frank grafisch verarbeitet, denkt sie auch über ihre eigene Zukunft nach. Über die Zukunft ihrer Heimat. Für die auswärtigen Schüler wird Bergen wohl auf jeden Fall ein Ort der Erinnerung, aber nicht unbedingt der Trauer bleiben. Für Luise ist Bergen, gemeinsam mit ihren Freunden ins Schwimmbad zu gehen. Sie lebt in ihrem eigenen Bergen, das den Ortsteil Belsen nicht umfasst.

Leave a Response